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von Yvonne Antoni – 02.02.2022
Jedes vierte Kind in Deutschland leidet unter einer chronischen Erkrankung. Das reicht von Allergien bis hin zu Diabetes und Rheuma. Die Diagnose wirbelt das Leben der betroffenen Familien durcheinander. Die Erziehung und Betreuung von gesunden Kindern sind schon herausfordernd, wenn ein krankes Kind in der Familie ist, benötigt man noch sehr viel mehr Kraft.
„‘Chronisch‘ nennt man Krankheiten, bei denen eine länger oder lebenslang andauernde gesundheitliche Beeinträchtigung vorliegt, die man ärztlich behandeln kann oder sogar behandeln muss, die man aber nicht heilen kann.“ (BZgA)
Tom ist traurig, weil er mit der Katze seines Freundes nicht spielen darf, Marie muss sich den ganzen Tag kratzen und möchte deshalb nicht ihr neues Sommerkleid anziehen, und Kaya ist wütend, weil sie durch ihren Asthmaanfall heute keinen Sport machen kann.
Ganz gleich in welchem Alter die Diagnose kommt, das Leben der Kinder und ihrer Familien verändert sich von diesem Moment an grundlegend. Inwieweit die Erkrankung alles umkrempelt, hängt natürlich von deren Schwere ab.
Asthma und Allergien machen den größten Teil der chronischen Erkrankungen aus. Fast jedes dritte Schulkind ist allergiekrank. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Der Alltag ist bei allen chronischen Kranken erschwert. Bei dem Nahrungsmittelallergiker ist es die strenge Diät, die eingehalten werden muss, Kinder mit Heuschnupfen sind in ihrer Leistungs- und Aufnahmefähigkeit beeinträchtigt und können möglicherweise an einigen Aktivitäten im Freien nicht teilnehmen. Asthmatiker müssen für den Notfall immer ihre Medikamente dabei haben und Diabetiker ständig ihren Blutzuckerspiegel überprüfen.
Die Familien- und Freizeitorganisation wird von nun an durch viele Arztbesuche, ständige Alarmbereitschaft und die aufwändige Versorgung des kranken Kindes bestimmt. Marie geht mit ihrem Papa regelmäßig zum Dermatologen, Tom bekommt einmal die Woche eine Spritze zur Hypersensibilisierung und Kaya muss sein Asthmaspray immer dabeihaben.
Die Sorge um das kranke Kind und die Daueralarmbereitschaft, die damit einhergeht, verlangt den Eltern viel ab. Man kann sich gut vorstellen, wie durch die große Verantwortung und die Zukunftsängste dem Familienleben die Leichtigkeit genommen wird und durch den Stress die Beziehung der Eltern leidet.
Die Perspektive des kranken Kindes
Die medizinische Versorgung chronisch kranker Kinder in Deutschland ist gut. Was jedoch oft vernachlässigt wird, ist die ganzheitliche Sicht auf das Kind. Denn auch wenn das Kind oder die Familie generell gut mit der Situation umgehen können, besteht die Gefahr, dass sich aufgrund des permanent eingeschränkten Lebens und der belastenden Erfahrungen auch eine psychische Erkrankung bilden kann.
Noah darf beispielsweise im Kindergarten die Geburtstagsmuffins nicht probieren und muss immer das essen, was seine Eltern ihm mitgeben. Für sehr junge Kinder ist es meistens schwer zu verstehen, was los ist. Warum sie die vielen Behandlungen über sich „ergehen“ lassen müssen und warum sie beispielsweise vieles nicht dürfen, ihre Freunde oder Geschwister aber schon. Noah zieht sich deshalb in der Kita oft traurig in die Kuschelecke zurück.
Manche Kinder führen die Krankheitsursache auf ihr eigenes Verhalten zurück und entwickeln Schuldgefühle. Deshalb ist es sehr wichtig, dass man die Kinder altersgerecht über ihre Krankheit aufklärt.
Für Kinder und Jugendliche bedeuten chronische Erkrankungen ein Leben mit:
• Nebenwirkungen, schmerzhaften Prozeduren, Angst, Krankenhausaufenthalten
• einem Fortschreiten der Krankheitsentwicklung
• Disziplin bei therapeutischen Maßnahmen
• existenziellen Aspekten wie Aussichtslosigkeit und Unveränderlichkeit
• Abhängigkeit
• schulischen und beruflichen Zukunftssorgen
• der Konfrontation mit Vorurteilen
• sozialen Risken bei Offen-barung bzw. Geheimhaltung der Erkrankung
• einer Sonderrolle in der Familie
• einer Beeinträchtigung des Selbstbildes und des Körperschemas
• einer Stigmatisierung durch sichtbare Symptome usw.
(Quelle: www.kinderjugendgesundheit.at)
Der Sohn meiner Freundin Katharina* leidet seit seiner Geburt an einer schweren Nahrungsmittelallergie. So verträgt er keine Milchprodukte, kein Hühnereiweiß und keine Nüsse. Er muss eine strenge Diät halten. Wenn in der Nahrung auch nur geringe Mengen einer dieser Stoffe enthalten sind, reagiert sofort die Haut und er bekommt einen schweren Ausschlag. Auch kann es zur Atemnot führen.
Ich bin schwer beeindruckt, wie Leon von Anfang an damit umgegangen ist. Für mich als Außenstehende wirkt es immer so, dass es für ihn selbstverständlich ist, den nussfreien, veganen Muffin zu essen, während die anderen aus der ganzen Palette an Süßigkeiten und Co. auswählen können. Für den Familienalltag bedeutet dies, dass meine Freundin und ihr Mann immer darauf achten müssen, was auf den Tisch kommt. Zuhause mag dies noch einigermaßen zu managen sein, sobald man jedoch ins Restaurant geht, wird der Ausflug zu einer Herausforderung.
Als Leon in den Kindergarten kam, musste mit den Erzieherinnen genau abgesprochen werden, was er essen darf und was nicht. Die Familie hat eine Liste erarbeitet, wo alles aufgelistet ist. Wenn Leon in einer fremden Umgebung ist, ist er darauf angewiesen, sich selbst schützen zu können. Er muss dann den angebotenen Kuchen ablehnen, da er nicht sicher sein kann, ob sich darin Nüsse befinden. Ab einem gewissen Alter haben Kinder verinnerlicht, was eine mögliche Bedrohung für sie darstellt.
Geschwisterkinder
Für Geschwisterkinder fühlt es sich so an, dass scheinbar immer das kranke Kind im Mittelpunkt steht. Wie schafft man es als Eltern, dass diese sich nicht vernachlässigt fühlen und eifersüchtig auf die Zuwendung der Eltern für das kranke Geschwisterkind sind?
Für Leons älteren Bruder Finn ist die Familiensituation nicht immer einfach, denn im Alltag dreht sich viel um seinen kleinen Bruder. Die ständige Sorge um die Gesundheit des einen Kindes und dabei den älteren Sohn nicht zu „vernachlässigen“ ist eine doppelte Herausforderung für meine Freundin und ihren Mann.
Eine maßgeschneiderte Strategie gibt es dafür nicht. Die Familie meiner Freundin hat für sich die Lösung gefunden, dass sie regelmäßig spezielle Events für Finn planen, bei denen er im Mittelpunkt steht. Das kann eine Kanutour mit dem Papa oder ein Kinobesuch mit den besten Freunden sein. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.
Verständnis für die Situation
Kinder mit chronischen Erkrankungen benötigen Verständnis von ihrem Umfeld, das heißt von Lehrern, Erziehern, Schülern, Freunden und Verwandten. In der Kita oder Schule sollten Erzieher und Lehrer über die Krankheit informiert werden. Sie müssen beispielsweise wissen, welche Medikamente das Kind benötigt, und wann sie im Notfall auf riskante Symptome reagieren müssen. Sie selbst dürfen jedoch keine Medizin verabreichen, es sei denn man hat eine klare Vereinbarung mit den Eltern getroffen. Bei Kindern im Kindergartenalter ist dies sicherlich eine größere Zusatz-Belastung als bei Schulkindern, die schon ganz gut mit ihrer Situation umgehen und dies auch sprachlich zum Ausdruck bringen können.
Auch den anderen Kindern muss erklärt werden, warum ihr zuckerkranker Mitschüler beispielsweise während des Unterrichts etwas essen darf oder im Sportunterricht nicht bei allen Spielen mitmacht.
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es eine größere Akzeptanz gibt, wenn über die Krankheit und deren Begleitumstände so offen wie möglich gesprochen und so viel wie nötig informiert wird. Jedoch auch hier ist es so, dass man immer von Fall zu Fall abwägen muss. Nicht jedes Kind möchte über seine Krankheit reden – deshalb sollten Eltern mit ihren Kindern besprechen, was genau wem erzählt wird.
Die Eltern wiederum müssen in vielen Fällen jederzeit erreichbar sein, um im Notfall auch direkt zu ihrem Kind eilen zu können. Dies verlangt auch seitens der Kollegen und des Arbeitgebers das nötige Verständnis für die Situation. In manchen Fällen, wenn beispielsweise die Kita nicht bereit ist, Mitverantwortung zu übernehmen, bedeutet es, dass ein Elternteil vorübergehend seinen Job aufgeben muss, was zusätzlich zu finanziellen Sorgen führt.
Wo finden Familien Hilfe?
• Neben den Kinderärzten sind auch je nach Erkrankung die Krankenhäuser eine erste Anlaufstelle. Manche Kliniken haben sich auf bestimmte chronische Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes oder Neurodermitis spezialisiert. Es lohnt sich also, sich direkt beim wohnortnahen Krankenhaus zu erkundigen.
• Auch die Krankenkassen bieten spezielle Programme für Betroffene. So beispielsweise die AOK Rheinland/Hamburg mit ihrem Programm LICHTBLICK, das neben einer zentralen Servicestelle auch Patientenbegleiter vor Ort sowie Informationen, Beratung und Unterstützung zur Bewältigung des Alltags bietet. Also am besten bei der Krankenkasse gezielt nachfragen.
• Weitere Unterstützung bieten die Selbsthilfegruppen, die es regional, überregional und auch online gibt, und die einen wichtigen Platz zum Austausch untereinander und der Bewältigung von Problemen darstellen.
• Das Kindernetzwerk ist der Dachverband von Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen und bietet auf seiner Website jede Menge Infos, Adressen und Hilfen zur Selbsthilfe in übersichtlicher Form:
www.kindernetzwerk.de
• Sozialpädiatrische Zentren bieten betroffenen Familien ganzheitliche Hilfen an. Davon gibt es deutschlandweit ungefähr 150 Einrichtungen.
• Außerdem hilfreich:
www.kompetenznetz-patientenschulung.de und www.ulmer-onlineklinik.de
Was noch fehlt:
Eine zentrale Stelle für Eltern, die sie mit den nötigsten Infos und Adressen versorgt und auch in der Anfangsphase nach der Diagnose unterstützt. Denn der ganze Papierkram, der von Anträgen zur Kostenübernahme für Hilfsmittel bis zur Genehmigung einer Schulbegleitung reicht, kostet die Eltern viel Zeit und Nerven.
Quellen und Infos:
• Bundeszentrale für gesund-heitliche Aufklärung: Broschüre Chronische Erkrankungen im Kindesalter
• Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit
• www.rki.de
• https://www.apotheken-umschau.de/familie/kindergesundheit/chronisch-krankes-kind-welche-hilfen-gibt-es-795251.html
• www.kinderjugendgesundheit.at
• www.herder.de/kizz/kindergesundheit
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